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„Vielfach fehlt der Mut“ – Expertenrunde zur Zukunft der Innenstädte

Kein Wandel ohne Dialog – mit dieser Maßgabe arbeiten wir im Projekt „Stadtlabore für Deutschland: Leerstand und Ansiedlung“ von Beginn an. Um Neues wirklich vorantreiben zu können, sind Dialog und Perspektivwechsel unerlässlich. In diesem Sinne freuen wir uns über den regelmäßigen Input der einzelnen Mitglieder im Projektbeirat und nutzen auch immer wieder die Gelegenheit, tiefer mit Einzelnen in den Austausch zu kommen. So auch im Gespräch von Dr. Eva Stüber mit Dr. Carsten Benke (Zentralverband des Deutschen Handwerks) und Steffen Braun (Fraunhofer IAO). Im Expertengespräch, das wir nachfolgend für Sie aufbereitet haben, standen die Themen Angebotsvielfalt in der Innenstadt, neue Anbieter, Zielgruppenbedürfnisse und Nachhaltigkeit im Fokus.

Handel und Gastronomie galten als die Zugpferde der Innenstadt. Wie wird das zukünftig sein?

Carsten Benke (CB): Das werden sie auch weiterhin sein, aber sicherlich nicht in dem Maße, wie in den letzten Jahrzehnten. Es müssen weitere Nutzungsanlässe und Angebote hinzukommen, um die Attraktivität der Innenstädte zu stärken. Auch historisch betrachtet waren Innenstädte ja durchaus sehr vielfältige Orte, in denen Handel, Verwaltung aber auch Produktion und unterschiedlichste Dienstleistungen zusammenkamen – vielleicht geht es – in anderer Form als früher – wieder mehr in diese Richtung.

Eva Stüber (ES): Ich sehe zukünftig auch mehr Vielfalt als nur Handel und Gastronomie in der Innenstadt. So wird der Anspruch an Erlebnis auch auf mehr Schultern verteilt und insgesamt facettenreicher. Auch im Sinne eines sozialen Zusammenkommens in der Stadt: Raum zu schaffen, in dem Interaktion und gemeinsames Lernen möglich sind. Der aktuell dominierende Akt des Kaufens wird zunehmend in den Hintergrund treten und Platz für neue Konzepte machen.

Steffen Braun (SB): Hieran kann ich direkt anknüpfen: Wir sprechen in diesem Zusammenhang in unseren Szenarien vom Konzept der „elastischen Innenstadt“ – also der Entwicklung der Innenstadt mit vielen Funktionen hin zu einem Erlebnisraum. Es gilt zu verstehen, dass sich viele neue dynamische und temporäre Angebote entwickeln werden, die die heutigen ergänzen.

Welchen Beitrag können weitere Anbieter liefern? Welche Rahmenbedingungen sind beispielsweise dafür nötig, dass mehr Handwerksbetriebe mit Showrooms o. ä. in der Innenstadt zu finden sind?

CB: Auch heute haben die Ladenhandwerke weiterhin in den Einkaufsstraßen eine wichtige Funktion: Die Lebensmittelgewerke, seien es Bäcker, Fleischer, Konditoren, Eishersteller und Brauer, oder die handwerklichen Dienstleister wie Textilreiniger, Uhrmacher, Juweliere, Friseure sowie Gesundheitshandwerke wie Optiker, Hörakustiker, Orthopädieschuhmacherund Sanitätshäuser. Die Vielfalt ist allerdings nicht mehr so ausgeprägt wie früher, aber das könnte sich durchaus wieder entwickeln. Die Nachfrage nach regionalen Lebensmitteln oder Reparaturdienstleistungen im Sinne der Nachhaltigkeit beispielsweise hat ein großes Wachstumspotenzial und die älter werdende Gesellschaft benötigt wohnortnahe Angebote vor Ort. Auch für andere Gewerke könnte es spannend sein, mit Werkstätten, Show Rooms und Manufakturen wieder mehr ins Zentrum zu rücken. Zum Beispiel im Bereich Mobilität und Klimaschutz. Vielleicht nicht in einer 1A-Lage, aber ergänzend im weiteren Innenstadtbereich. Wenn wir über die Themen Nachhaltigkeit und Energie nachdenken: Warum nicht auch das Beratungsangebot eines Heizungsinstallateurs oder Elektrikers in die Innenstadt integrieren?

SB: Ich würde gerne noch drei Rahmenbedingungen ergänzen: Auf der einen Seite braucht es neue Kümmerer, die diese Veränderungsprozesse unterstützen und es branchenübergreifend verstehen, Handwerk, Kultur, Gastronomie oder soziale Einrichtungen zusammenzubringen. Es ist aber auch eine Frage von Plattformen und Informationstransparenz. Eine Grundvoraussetzung, dass sich neue kleinteilige regionale Versorgungsprozesse oder Lebenszyklusansätze etablieren können. Als drittes die Frage: Was kann die Innenstadt von morgen eigentlich leisten? Wohin möchte sich die einzelne Stadt entwickeln? Das strategisch zu beantworten, ist wichtig für die lokale Wirtschaft aber auch, um die Bevölkerung abzuholen und in den Prozess einzubinden.

ES: Das greife ich gerne auf. Es gibt ja nicht die ideale Innenstadt, sondern wir werden auch unter den Städten Vielfalt sehen – abhängig von den Rahmenbedingungen wie Bevölkerung, bestehender Struktur oder Zielbild. Gerade in Richtung des Handwerks sehen wir viel Potenzial um Themen wie Regionalität, Nachhaltigkeit und Individualität zu bedienen. Deswegen freue ich mich, dass wir mit LeAn® eine Plattform schaffen, die eine Steuerung des gesamten Angebotsmix ermöglicht. Und die passenden Konzepte mit den richtigen Orten verbindet – vielleicht auch erst einmal als Zwischennutzung, um weiter zu lernen. Gleichzeitig müssen solche Prozesse aber auch ökonomisch gedacht werden und die Perspektive der Immobilienwirtschaft einbeziehen. Dafür braucht es Transparenz, Daten und ein gemeinsames Zielbild. Und es braucht neue Spielregeln, die Freiräume schaffen etwas wagen zu können.

CB: Ich würde gerne nochmal auf die Rahmenbedingungen zurückkommen: Für das Handwerk ist das Preis-/Kosten-Thema vor allem mit Blick auf die Mieten sehr relevant. Wenn Innenstädte in ihrer Gesamtheit resilienter und vielfältiger werden sollen, müssen Immobilienbesitzer in manchen Fällen auch von gewohnten Preisvorstellungen wegkommen. Und auch auf die Nutzung von Gewerbeflächen muss differenzierter geschaut werden. Die Anforderungen des Handwerks sind vielfach andere als im Handel. Hierauf müssen Kommunen im Zweifel auch baurechtliche, bauliche und stadtplanerische Antworten finden. Zudem gilt es, Nachbarschaftskonflikte zu vermeiden. Das Handwerk wird moderner und digitaler, aber ein 3D-Drucker ergänzt und ersetzt nicht immer die Kreissäge. Nicht alles geht überall: Zwischen dem Uhrmacher und dem Tischler gibt es ein breites Spektrum. Aber grundsätzlich ginge in den Innenstädten an jeweils geeigneten Stellen mit innovativen Ideen, baulichen Vorkehrungen und guter städtebaulicher Organisation viel mehr, als sich manche vorstellen können. Vielfach fehlt der Mut.

ES: Stimmt – es braucht mehr Mut und mehr Flexibilität sowie Geschwindigkeit. Ich habe erst kürzlich wieder von einem Beispiel gehört, wo die Umnutzungsbeantragung über acht Monate gedauert hat.

Der Großteil der Menschen in Deutschland sind verhinderte Innenstadtfans. Wie können diese Personen – gerade auch mit Blick auf die junge Generation – wieder zu Fans gemacht werden?

SB: Das Thema Zielgruppenansprache ist natürlich ganz entscheidend. Die junge Zielgruppe, die sehr digitalaffin aufwächst, kommuniziert völlig anders als andere Altersgruppen, wächst aber in fünf bis zehn Jahren in die einkommensstarken Bevölkerungsgruppen hinein. Innenstädte funktionieren aber noch weitestgehend analog. Neben ersten Smart City Projekten gilt es also, das Thema Digitalität nicht nur auf der Prozessebene, sondern auch auf Ebene von Kommunikation, Erlebnis und Interaktion in den Innenstädten mitzudenken. Das ist ein Handlungsfeld, auf dem nachgezogen werden sollte.

ES: Bedürfnisorientierung ist ganz zentral. Ein Produkt zu kaufen, ist kein Anreiz für junge Menschen in die Innenstadt zu gehen, aber Menschen bleiben soziale Wesen. Ein Beispiel: Jede:r könnte zuhause Computer spielen und trotzdem funktionieren LAN-Partys als soziales Event. Es gilt auch Nicht-kommerzielle Begegnungsstätten zu schaffen. Die Shutdownphase hat ja eindrücklich gezeigt, dass die Innenstädte ausgestorben waren, während Handel und Gastronomie geschlossen waren. Wo hätten sich die Menschen innerstädtisch unter Pandemiebedingungen auch treffen sollen? Auch im öffentlichen Raum gibt es viel Anpassungsbedarf, von Spielplätzen und verkehrsberuhigten Zonen über Mobilität bis hin zu den öffentlich ausgiebig diskutierten Trinkwasserbrunnen.

Vor allem für jüngere Zielgruppen spielt Nachhaltigkeit eine immer größere Rolle. Stichwort Zielbild nachhaltige Stadt: Wie können Kreislaufsysteme aufgebaut werden?

ES: Auch hierbei wird es zunehmend um nicht rein kommerzielle Orte und Angebote gehen. Wir sehen beispielsweise in unseren Befragungsergebnissen die hohe Relevanz von Repair-Cafés für die junge Zielgruppe. Und zwar aus unterschiedlichen Gründen: Einmal geht es um die Verlängerung der Lebensdauer von Produkten unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten, hinzu kommt der Anspruch an Individualität und nicht zuletzt sind Repair-Cafés auch soziale Orte an denen Gleichgesinnte zusammenkommen, handwerklich tätig werden, sich austauschen. Für die Innenstadt im Sinne eines Erlebnisraumes erfüllen solche Angebote also gleich mehrere Bedürfnisse.

CB: Kreislaufwirtschaft und Nachhaltigkeit sind beides große Themen, die das Handwerk längst betreffen und in den nächsten Jahrzehnten noch vermehrt beschäftigen werden. Das kann viele Chancen bieten, wenn der Rahmen auch bürokratiearm und mittelstandsgerecht gesetzt wird. Wir können und wollen weder Industrialisierung noch Globalisierung zurückdrehen, aber die Bedeutung und Wertschätzung handwerklich regional produzierter und reparierter Produkte wird wieder steigen. Die früher selbstverständlichen Wege zum Schuster oder zum Schneider und zukünftig für die Reparatur von Elektro- und Haushaltsgeräten zum Elektriker sind Bausteine der modernen Nachhaltigkeit, die sich in neuer Form in den Quartieren weiterentwickeln können. Dadurch würde das bestehende Angebot wieder stärker durch lokale Nachhaltigkeitsstrukturen ergänzt. Das hat großes Potenzial.

SB: Das neue regionale Verständnis bietet da eine Reihe Anknüpfungspunkte. Nicht nur vor dem Hintergrund „Farm to Table“ als Beispiel der Lebensmittelversorgung – also welche regionalen Prozesse müssen eigentlich entwickelt werden, damit die Produkte möglichst klimaneutral direkt vom Acker auf den Teller kommen? Wir sehen auch viel potenzielle Flächen in den Innenstädten, die nutzbar wären – was fehlt ist wie in vielen Fällen die Transparenz oder eine Informationsplattform, die Prozesse und die Ressource ‚Raum‘ sichtbar machen. Und am Ende steht die Frage, wie wir dieses Raumpotenzial, das wir in den heutigen Innenstädten haben, aktivieren können, um Nachhaltigkeit zu fördern und solche regionalen Prozessketten aufzubauen.

Vielen Dank für das Gespräch.

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